Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum

Erst vergangenen Mittwoch war es wieder soweit: Der Moderator verabschiedete mich von der Bühne mit den Worten: „Vielen Dank, liebe Katharina, für diesen Vortrag.“
Ich weiß nicht mehr, wie oft das passiert ist in den vergangenen Jahren. Der ehemalige Chef, die Sprechstundenhilfe, manchmal sogar eine Freundin. Sie sagen: Katharina.
Ich heiße nicht Katharina. Und nein, ich habe auch keinen Zweitnamen.
Ich gebe die Schuld genau einer Person: Heinrich Böll.
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Der Bestseller aus dem Jahr 1974. Und jetzt habe ich ihn endlich auch gelesen.
Muss man noch erklären, worum es geht?
Katharina Blum, eine zurückhaltende, pflichtbewusste junge Frau, verliebt sich auf einer Party in einen Mann. Er wird jedoch von der Polizei gesucht. Weil sie ihm vermutlich zur Flucht verhilft, stürzt sich die Boulevardzeitung – im Roman schlicht DIE ZEITUNG – auf sie.
Erfundene Zitate, Verdrehungen, Schlagzeilen, Unterstellungen. Katharina wird zur Terrorbraut stilisiert.
Privatsphäre? Zerschlagen. Die Behörden? Behandeln sie wie eine Schuldige.
Verhöre, Überwachung, Vorverurteilung.
Wahrheit interessiert niemanden. Hauptsache, das Narrativ passt. Am Ende erschießt Katharina den Reporter. Nach der Lektüre hatte ich das Gefühl „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ist heute so aktuell wie 1974.
Böll beschreibt ein Mediensystem, das auf Emotionen setzt statt auf Fakten. Geschichten werden personalisiert, vereinfacht, dramatisiert. Rufschädigung geht schnell. Korrekturen? Nicht so sehr. Katharina Blum ist ein früher Fall medialer Hinrichtung – nur ohne Kommentarspalten.
Und auch die Machtverhältnisse haben sich nicht verschoben: Damals wie heute steht der*die Einzelne einem System gegenüber, das Urteile schneller fällt als Fragen stellt. Zitatfälschung, Emotionalisierung, Kontextverlust – was Böll beschreibt, ist heute Alltag. Nur schneller, greller, algorithmisch getrieben.
Und dann stellt sich die Frage nach der Verantwortung. Böll stellt sie – leise, aber deutlich. Wer trägt Verantwortung für das, was aus einer Geschichte wird?
Journalist*innen? Algorithmen? Leser*innen? Plattformen? Fragen, die wir uns auch heute stellen sollten – beim Scrollen, Liken, Teilen.
Ich glaube, ich habe „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ genau zur richtigen Zeit gelesen.
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