Der Mann

Wieder war es dunkel in dem Lokal. Fast zu dunkel, um dort in aller Ruhe zu sitzen und zu lesen. Sicher, man konnte die Hand vor den Augen noch erkennen. Und auch die Menschen, mit denen man die Örtlichkeit teilte. Aber wirklich passend für ein allabendliches Bier und eine ausführliche Zeitungsschau war das Lokal nicht. Schon gar nicht für die kleine Schrift bei einem Kreuzworträtsel. Deshalb hatte ich mich schon bei meinem ersten Besuch gewundert, dass er dort saß. Den Kopf nach unten geneigt, so dass man bei seinem Anblick zu allererst auf seine Kopfhaut sah, die durch die letzten Haare kaum zu verdecken war. Mit den Fingern der rechten Hand sich über die Schläfe streichend. In der anderen Hand die Zeitung. Akurat neben dem Bierglas das Brillenetui liegend. Und der Stift.
Auch heute saß er wieder da. Diesmal versteckt in der hintersten Ecke, in die ich mich hätte setzen wollen. Und wieder fragte ich mich, was dieser alte Mann hier in diesem Lokal machte. Ein paar Anzugträger saßen herum und ansonsten vor allem junge Leute. Was bewegt diesen Mann, immer wieder hierherzukommen? Ist es, weil seine Wohnung genau über dem Lokal liegt, und er den Lärm ohnehin nicht ertragen kann? Ist es die keifende Ehefrau, die ihn bei der ausführlichen Lektüre der Zeitung stört? Der ewig bellende Hund? Die um Zärtlichkeit heischende Katze, die mit ihren Pfoten auf dem Zeitungsrand herumtappst? Oder die schlichte Einsamkeit? Das Nichts, dass seine kürzlich verstorbende Frau in den eigenen vier Wänden und im Herzen hinterlassen hat. Die drückende Ruhe, der es zu entfliehen galt.
Vielleicht sollte ich ihn das nächste Mal danach fragen.

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