Mein April #17, marzahn-edition
Ich habe ungefähr neun Jahre meines Lebens in Marzahn verbracht. Ein Satz, der, wenn man ihn jemanden erzählt, gerne mal mit ungläubigen Blicken aufgenommen wird. Marzahn? Das klingt nach Plattenbauten, die auf die grüne Wiese gebaut worden sind, nach Ghetto-Wohnen, nach rechter Szene. Marzahn ist für mich aber auch nach Kindheit. Und wenn ich an Marzahn denke, dann denke ich an mein eigenes Zimmer, unsere Schildkröte Erna, der nahe gelegene Kindergarten, Schulkameraden, nach draußen gehen und immer einen Spielkameraden finden, einen kurzen Schulweg, Versteckenspielen im Elfgeschosser, Tischtennis-Rundlauf. Natürlich kommen irgendwann auch die Gedanken an den Pionierdrill dazu, an Fahnenappell, daran, dass plötzlich keiner mehr mit dir redet, weil deine Eltern einen Ausreiseantrag gestellt haben, dass deine beste Freundin nicht mehr mit dir reden darf (und wir uns daran aber nicht gehalten haben).
Der Samstag führt mich also mal wieder dorthin. Alle paar Jahre eine Stipvisite.
Anreise mit der S-Bahn. Die wenigsten hatten ein Auto in dieser Zeit und die Geschichten, dass man selbst auf einen Trabant zwölf Jahre lang warten muss, stimmen. Aber wer braucht in einer großen Stadt schon ein Auto. Die Straßenbahnen fuhren schon damals regelmäßig, genauso Busse und Bahnen. Spätestens an der Haltestelle Springfuhl werden Erinnerungen wach – das Schwimmbad, in dem ich schwimmen lernte, die Bücherei, in der ich mir regelmäßig Mädchenbücher auslieh. Die Station „Karl-Maron-Straße“ wurde umbenannt, heißt jetzt Poelchaustraße. Ich wusste nicht, dass Karl Maron mal Innenminister war. Ich weiß nur noch, dass einer unserer letzten Wege dorthin führte, weil wir dort unsere Unterlagen für die Ausreise erhielten.
Es geht entlang der Märkischen Allee zur Basdorfer Straße. Der Flachbau, in dem die frühere Sero-Annahmestelle (Für die Rückgabe von Papier, Glas und Co. gab’s damals Geld) steht seltsamerweise immer noch. In der Basdorfer Straße, da wo früher die Kinder auf dem Spielplatz tobten, herrscht nun eine Stille. Eine Stille, die bedrückend wirkt, wenn man bedenkt, dass um einen herum mehrere hundert Menschen wohnen. Doch: kein Kindergeschrei, nicht einmal ein Auto ist zu hören, stattdessen Vögelgezwitscher.
Natürlich will ich auch meine Schule sehen. Die 25. polytechnische Oberschule „Hans Seigewasser„. Die alte Turnhalle und die ehemalige Cafeteria, noch mehr Flachbauten, stehen noch. Doch meine Schule ist weg. Stattdessen blicke ich auf eine grüne Wiese. Die haben wirklich die Schule abgerissen. Nach der Wende beherbergte das Gebäude noch eine Gesamtschule, seit 2004 ist auch das Vergangenheit.
Der Rückweg dann über die Marzahner Promenade, die Einkaufsstraße, die mittlerweile ein wenig traurig anmutet. Das neue Einkaufszentrum Eastgate dürfte den Rest der einigermaßen ernst zu nehmenden Geschäfte bald den Garaus machen. Lustiges Detail: Das Tiergeschäft, bei dem wir damals Schildkröte Erna kauften, gibt es immer noch.
Bevor es wieder zurück geht noch ein kleiner Spaziergang über den Friedhof auf der anderen Seite der S-Bahn. Auch da werden Erinnerungen wach. Spielen, ein bisschen durch den nahegelegenden Wald streunen, auf dem Weg hin oder zurück haben mein Bruder und ich uns manchmal heimlich eine Ketwurst gekauft. Erinnerungen aber auch an die Vereidigung als Pionier. In der Jetztzeit stehen bei dem Denkmal immer noch frische Blumen und Kerzen. Auch das ist Marzahn.
—
Der Rest des Tages in Kurzform: Kleid gekauft. Leckerer Kaffee von Dunkin Donuts. Sonnenschein. Pizza essend über verschiedene Hochzeiten gesprochen. Später Bier in einer Kneipe, in der Sascha Lobo Mayor ist. Nachdem ich das bemerkte, lief Sascha am Fenster vorbei. Verrückte Internetwelt.
Hallo Franziska,
danke für den sehr schönen Beitrag. Schwelgen in Erinnerungen ist toll. Auch ich habe in Marzahn ca. neun Jahre meines Lebens verbracht. In der besagten Bücherei hatte ich mir immer Abenteuerliteratur ausgeliehen und das Tiergeschäft kenne ich auch. Hier gab es das „Zubehör“ für unseren Hamster, später dann die Zierfische.
Indifferente Gefühle bei der Rückkehr an die Stätten der Kindheit, sehr schön beschrieben. Bei mir nicht Marzahn, Haupstadt der DDR, sondern tiefstes Westdeutschland, schwäbische Provinz. Wahrscheinlich war meine Kindheit das genaue Gegenteil zu Ihrer. Und doch fühle ich mich heute immer noch komisch, wenn ich durch die damaligen Zonen streife, hier die Jugendbiblioithek, dort das hässliche Einkaufszentrum, am Hügel gegenüber die Klosterkirche. Und da hinten die Grundschule, ach.
Spannend! Ich versuche mir vorzustellen wie ich entdecke, dass es meine Schule nicht mehr gibt (die ich seit über zehn Jahren keines Blickes gewürdigt habe) – sehr, sehr eigenartig.
hihi… Ketwurst :-)
Gibts sowas eigentlich noch?
Kann man überall noch kaufen. Können wir ja am Udo-Wochenende essen :)
lecker! Das machen wir!