Plötzlich Shitstorm am Beispiel von Sat.1

Eine kritische Äußerung, eine auf den ersten Blick unscheinbare Frage, eine echte Beleidigung – und jedes Mal die große Frage: Wie soll ich, wie sollen wir darauf bloß reagieren? Kommunikation in Social Media erfordert häufig Schnelligkeit, eine präzise Wortwahl, aber oft auch einfach einen gesunden Menschenverstand. Wie man es eher nicht macht, konnte man diese Woche mal wieder erleben. Am Beispiel von Sat.1.

Matthias Distel aka Ikke Hüftgold ist Unternehmer und Schlagerstar (weiß ich auch erst seit letzter Woche). Distel sollte Protagonist in der Sat.1-Show „Plötzlich arm, plötzlich reich“ (Kannte ich vorher auch nicht!) werden. Stattdessen veröffentlichte er am Montag ein Video auf Instagram, in dem er erklärte, warum er aus den laufenden Dreharbeiten ausgestiegen ist (20 Minuten echt harte Kost, mir kamen zwischenzeitlich die Tränen). Gleichzeitig erhob er schwere Vorwürfe gegenüber dem Sender und der Produktionsfirma. Das Kindeswohl von schwer traumatisierten Kindern sei mit Füßen getreten worden. Das Video verbreitete sich in Windeseile, Online-Artikel in den Medien erschienen. Für Sat.1 also ein ordentlicher Shitstorm.

Wie hättest du reagiert?

Gar nicht reagieren und hoffen, dass sich die Gemüter von alleine beruhigen? Aussitzen? Öffentlich entschuldigen? Mal ganz grundsätzlich über diese Form von Bloßstellungsformate nachdenken und das öffentlich ankündigen? Oder zur Gegenattacke ausholen und behaupten, dass der Schlagerstar „die Familie ungefragt in die Öffentlichkeit gebracht“ habe?

Nach der Lektüre aller Statements würde ich behaupten, dass Sat.1 den Weg gewählt hat, der am wenigsten schnell aus dem Shitstorm herausführt. Der Debatte ein Ende setzt und nicht dafür sorgt, dass nun auch der Spiegel und andere Massenmedien über den Fall berichten, sich ja bereits erste Gruppen formieren, die Werbende aufrufen, den Sender zukünftig zu meiden.

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Für Twitter bezahlen? Warum ich noch skeptisch bin

Vor ein paar Wochen hatte ich 14-Jähriges auf Twitter. Ich habe es mit einem Tweet gefeiert. Ein paar gratulierten. Vor ein paar Tagen verkündete der Pianist Igor Levit, eine Twitter-Pause zu machen. Es sei unerträglich geworden, schrieb er. Immer wieder hatte er sich in der Vergangenheit politisch positioniert und war dafür angefeindet worden. Konnte sich teilweise nicht ohne Polizeischutz in der Öffentlichkeit bewegen.

Twitter hat erkannt, dass es sich nach 15 Jahren neu erfinden muss. Zunächst gab es die Möglichkeit, die Sichtbar- und Kommentierbarkeit von Tweets einzuschränken. Vor einigen Wochen der Start von Twitter Spaces, die kommende Integration des Newsletterdiensts Revue, eine mögliche Ausweitung von Shopping-Funktionen und die Einführung der virtuellen Kaffeetasse.

Vieles davon Versuche, die Erlösströme auf neue Säulen zu setzen. Und so überraschte es nicht, als die Entwicklerin Jane Manchun Wong vor einigen Tagen entdeckte, dass womöglich bald ein Abomodell namens „Twitter Blue“ starten könnte. Wong hat in den vergangenen Jahren schon mehrfach neue Features sozialer Netzwerke entdeckt, bevor diese offiziell kommuniziert wurden.

2,99 Dollar könnte „Twitter Blue“ pro Monat kosten, monatlich kündbar mit ein paar für viele lang ersehnten Features: ein Undo-Timer, einer Art Bibliothek für favorisierte Tweets, um sie leichter auffindbar zu machen. Auch die Möglichkeit, Werbung aus der eigenen Timeline zu verbannen, scheint denkbar. Die Rede ist auch von gestaffelten Preisen pro Monat für weitere exklusive Features.

Die Frage, die mich allerdings in diesem Zusammenhang bewegt: Genügen diese Features, um ein solches Abo abzuschließen? Ich glaube nicht. Natürlich ist Twitter eine höchst attraktive Plattform für den politischen und gesellschaftlichen Diskurs, zur Meinungsbildung und zur Darstellung zahlreicher Multiplikatoren. Gleichzeitig ist Twitter attraktiv und verflucht zugleich wegen seiner Schnellig- und Schnelllebigkeit. Denn die Hürde, irgendwelchen Emotionen freien Lauf zu lassen, vor allem eben Wut, Hass und Hetze, ist aus diesem Grund nicht sonderlich hoch.

Und solange Twitter dies nicht in den Griff bekommt und sich Menschen wie Igor Levit frustriert abwenden, wird es schwierig werden, ein Abomodell zu etablieren.

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Wieviel Radikalität verträgt unsere Sprache?

„Ich gucke seit Monaten kein Fernsehen mehr.“ Einer dieser Sätze, den ich in den vergangenen Tagen vermehrt gehört habe. Ausgangssperren, Corona-Leugner, Verbote, Rassismus, Klima – macht alles nicht wirklich Spaß. Viele meiden gar den täglichen Blick in die Nachrichten und auch ich muss zugeben, dass mir derzeit an einigen Tagen die Logo-Nachrichten völlig ausreichen. 15 Minuten investieren, in denen nur das Schlechte dieser Welt berichtet wird – muss nicht sein.

Ja, wir leben in in Zeiten kräftigster Zuspitzung. Alles ist schwarz ODER weiß, aber meistens mindestens dunkelgrau. Man könnte meinen, die Welt stünde kurz vor dem Untergang. Zwischentöne, Schattierungen, um in der Farbwelt zu bleiben – nö. Und auch unsere Sprache ist geprägt von Zuspitzung, Radikalität.

Ausgangsbeschränkungen werden zu Ausgangssperren. In einem Papier des „Expertenrats“ der Landesregierung Nordrhein-Westfalen werden Menschen, die sich an die Regeln halten zu „Lockdown-Fanatikern“ in Abgrenzung zu den „Corona-Leugnern“. Der vergleichsweise sanfte Shutdown wird zum Lockdown, zwischenzeitlich drohte gar ein Mega-Lockdown. Wie würden wir eigentlich das nennen, was beispielsweise in Chile praktiziert wurde? Dort durfte man monatelang nicht ohne Grund und Passierschein (online zu beantragen, personalisiert und limitiert) – das Haus verlassen. Und das Militär kontrollierte, ob man seinen Passierschein auch dabei hatte. Einen Passierschein, der einem erlaubte, einmal am Tag sieben Mal die Woche, manchmal aber auch nur zweimal pro Woche, vor die Tür zu gehen. Und das muss reichen für Gassigehen, Einkaufen, Arztbesuche. Wäre das ein Mega-Superduper-Lockdown? Und erinnerst du dich noch an Armin Laschets „härtestes Weihnachtsfest, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben“?

Ohne Radikalität geht es offenbar nicht. Laufen wir hier nicht Gefahr, dass uns für die Phänomene unserer Zeit die Worte ausgehen? Und warum machen wir das eigentlich?

Ich sehe vor allem drei Trends.

Erstens: Wir leben in einer Zeit, in der sich die Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr einfach so mit Abwarten oder moderater – nicht radikaler – Politik lösen lassen. Und das spüren wir gerade jetzt sehr. In der Digitalisierung ging Deutschland einen, sagen wir mal, moderaten Weg – und wurde jetzt auf radikale Weise eingeholt – siehe die Schulen. Oder der Pflegenotstand, das Artensterben, die fast schon unvermeidliche Klimakatastrophe.

Zweitens: Wir leben in Zeiten von einer Emotionalisierung von Nachrichten. Und das wird natürlich stark getrieben durch soziale Netzwerke. Der Kampf um Aufmerksamkeit wird über klare, emotionale Botschaften gewonnen und wer von sozialen Netzwerken profitieren will, muss zuspitzen und emotionalisieren.

Drittens:
Die Aufmerksamkeitsökonomie hat zudem den Nebeneffekt, dass noch mehr Medien, Unternehmen, Einzelpersonen um die Aufmerksamkeit der Menschen buhlen – und das führt dazu, dass Themen zugespitzt werden. Je einfacher die Botschaften, desto besser. Je emotionaler, überraschender die Geschichte – umso besser. Bei der Beurteilung von Nachrichten dominiert der Unterhaltungs- und Gesprächswert die anderen. Journalismus zur Bestätigung der eigenen Gefühle.

Aber ich will hier auch drei Vorschläge machen.

Erstens: Mehr Medienkompetenz für Medien.
Wie lange hat es gedauert, bis verstanden wurde, dass es vielleicht nicht allzu klug ist, jeden einzelnen Tweet von Donald Trump in eine Nachricht zu gießen, sich darüber lustig zu machen und so diesen Aussagen noch ein viel größeres Gewicht zu geben – vier ganze Jahre! Medien haben eine Verantwortung. Sie müssen noch besser verstehen, wie digitale Medien funktionieren und missbraucht werden können.

Zweitens: Emotionalisierung, wenn es wirklich sinnvoll ist.
Gegenüber Spektrum sagte Umweltjournalist Dirk Steffens: „Man braucht Emotionen, um Handlungsimpulse zu erzeugen. Im Journalismus dürfen wir emotionalisieren – vorsichtig und verantwortungsvoll. Aber vielleicht sind wir zu vorsichtig.“ Die Klimakrise wäre ein Thema, dem MEHR Emotionalität gut tun würde.
Fünf Milliarden Jahre Erdgeschichte bedeuten fünf Milliarden Jahre Klimawandel, so könnte man meinen. Mit diesem Begriff verstellen wir den Blick auf die Ursache, Dringlichkeit, er ist so schön abstrakt und schön weit weg von unserer Verantwortung.

Drittens: Wenn schon schlechte Nachrichten, dann in Verbindung mit Konstruktivem!
2019 haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Studie veröffentlicht, für die sie u.a. getestet haben: „Für welche Form von Journalismus entscheiden sich Menschen, wenn sie unter Zeitdruck stehen?“ Traurige Antwort: Negatives wird eher wahrgenommen und verkauft sich deshalb auch besser. Könnte man dann nicht aber versuchen, Negatives mit Positivem in Verbindung zu bringen! Mit Lösungen und Perspektiven.

(Dieser Text ist eine Version eines Vortrags, den ich beim Creative Morning gehalten habe.)